WER ERKENNT

Wer erkennt, was der Mensch in den letzten 50 Jahren durch seine, für „Innovation“ gehaltene industrielle Produktivität der Biosphäre – die er egozentrisch nur noch „Umwelt“ nennt – an Zahl und gigantischen Mengen neuer, nie zuvor durch die Selektion der Evolution in Jahrmillionen geprüften chemischen Stoffen bedenkenlos zugemutet hat, staunt: zig Tausende sind es als Nahrungs- und Genussmittelzusatzstoffe, Dentallegierungen, Arznei- und Masthilfsmittel, in Shampoos und Waschmitteln, Baustoffen, als Agrochemikalien und Pestizide, aus Lösemitteln, Farben, Lacken, Kunststoffen, aus der fatalen Chlor- bzw. Halogenchemie, aus AKW- und Verbrennungsemissionen etc. etc., von denen viele auch im Menschen (nicht nur in „Spuren“) wiedergefunden werden. Die Geschwindigkeit, mit der neue Substanzen veröffentlicht werden, liegt z.Zt. über 300.000 pro Jahr (!), und die Toxikologie braucht über 7 Jahre für die gründliche Untersuchung einer einzigen Substanz. Synergismen zwischen mehreren chemischen Stoffen (oder gar zwischen diesen und physikalischen Noxen, wie UV-Strahlung, Lärm, Radioaktivität, elektromagnetischen Feldern etc.) werden ignoriert und lieber gar nicht erst untersucht… Man könnte ja Nachteiliges finden. Wen wundern da noch die immer deutlicher sichtbar werdenden schädlichen Folgen dieses Treibens für Mensch und Natur?

Wer aber die Ignoranz der sogenannten „Schulmedizin“ gegenüber umweltbedingten Erkrankungen  beobachtet, erschrickt: Die diagnostische und therapeutische Unkenntnis ist hier eher die Regel, die Ausbildung der Studierenden in „Umweltmedizin“ miserabel und die meisten Hochschulinstitute, die ihrem Namensschild „Umweltmedizin“ flink beigefügt haben, oder gar „umweltmedizinische Beratungsstellen“ unterhalten, missbrauchen dies als Tarnanstrich, weil sie auf diesem Gebiet nichts leisten und die hilfesuchenden Geschädigten lieber rasch psychiatrisieren als sachkundig beraten. Ihr Beitrag zur „Umweltmedizin“ besteht nicht darin, diese zum ernstzunehmenden Fachgebiet zu entwickeln, sondern es zu ruinieren. Welche Motive sind hier am Werke?

Und wer schließlich verfolgt, wer sich inzwischen eilfertig den Einfluss auf die Umweltmedizin, z.B. sichtbar bei der Gründung einer „Internationalen Gesellschaft“, schon wieder gesichert hat, den packt nur noch das Entsetzen. Industriegefällige, profitorientierte Hofgutachter haben schon genug Unheil angerichtet, sie müssen gemieden werden – auch von Gerichten.

Doch damit nicht genug. Die nicht mehr länger zu verheimlichende Rezession, die auch in Deutschland jahrzehntelange Korruption , Misswirtschaft und mit Unfähigkeit gepaarte parasitärer Eigennutz des Mittelmaßes in Politik und Verwaltung verursacht haben, gefährdet existenziell auch die mühsam zum Leben erweckte Umweltmedizin: Wenn Politiker mit dem Charme von Planierraupen u.a. Sozial-, Gesundheits- und Umweltpolitik bestimmen, werden auch umweltmedizinische Diagnostik  und Therapie gestrichen, es werden unter den alles verschärfenden „Sparmaßnahmen“ – die zuerst bei den Parlamenten ansetzen müssten – auch bisher erfolgreiche umwelttoxikologische Institute eingestampft. Und wenn sogar eine frühere Volkspartei immer häufige ihre lauten Wahlversprechen (z.B. „Ausstieg aus der Atomenergie!“, „Ökonomie und Ökologie!“) rasch vergisst, mit denen sie umweltbewusste WählerInnen (hoffentlich letztmals) köderte und sich jetzt opportunistisch „neuen Technologien öffnen“ will, sollten wir endlich merken, wie spät es ist. Wirtschaftliche Interessen werden wieder menschliche Gesundheit und die Natur geopfert, business as usual…

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettenden auch.“ Lassen wir diesen Trost Hölderlins auch für den Schutz von Mensch und Umwelt wirksam werden und setzen der blinden Zerstörung sachliche Information und gesellschaftspolitisches Engagement verstärkt entgegen!

Diese Botschaften, auch diejenigen dieses Kongresses, werden gehört werden.

Kiel, im Mai 1997
Prof. Dr. Otmar Wassermann